Moria als Symbol für die Verachtung der Menschenwürde in Europa

 Dieser kleine Text ist eine erste empörte Reaktion aus den Reihen des Netzwerks auf die Eskalation der Situation im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, über die wir in den letzten Newsletter immer wieder berichtet haben. Er wurde geschrieben am 9. September 2020 – in den ersten Stunden nach Bekanntwerden der Brandkatastrophe. Ein Brand, von dem wir bis heute nicht wissen, wie er zu Stande kam. In der aktuellen politischen Diskussion wird die behauptete und auch mögliche Brandstiftung durch Geflüchtete selbst benutzt, um die breite Forderung nach einer schnellen humanitären Aufnahme der nun obdachlosen Geflüchteten zurückzuweisen. Auch deswegen lenkt der Text die Frage der Verantwortung für die Katastrophe auch auf uns selbst. Diese Selbstbefragung ersetzt keine Analyse, was jetzt zu tun wäre, sondern fordert (uns) alle, die nun mit Entsetzen die Bilder aus Moria sehen, auf, sich mit dieser Frage wieder mehr zu beschäftigen.

Dieser Text ist auch ein Appell an uns alle nicht nachzulassen und uns mit unseren Möglichkeiten an unseren Orten dafür einzusetzen, dass diese Katastrophe ein Ende findet. Neben einer unabdingbaren schnellen humanitären Lösung geht es dabei auch um politische Perspektiven für die Weltkrise, für die Moria nun ein Symbol geworden ist.

Moria wird für immer ein Symbol für die Verachtung der Menschenwürde in Europa bleiben

Die Katastrophe ist nicht nur das Feuer, es ist die unmenschliche Situation, die Menschen in eine so aussichtslose Lage bringt, dass man es ihnen nicht verdenken könnte, wenn sie das Einzige angezündet hätten, was ihnen geblieben ist. Es sind die Monate und Jahre, in denen diese Menschen unter den – allen bekannten – unvorstellbaren Bedingungen leben mussten, ohne eine Perspektive auf Zukunft, aber – spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie – mit der verzweifelten Aussicht, dass die wahre Katastrophe jederzeit eintreten kann.

Moria wird vor allem auch in Erinnerung bleiben für eine Katastrophe, die niemanden überraschen konnte. Das einzig Unerwartbare daran war, dass sie erst nach so langer Zeit eintrat. Dass erst vor wenigen Tagen der erste Coronafall aufkam, ist mehr als ein Wunder. Es ist erbärmlich, dass man rund 13.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben lässt, während ganz Europa von Social Distancing spricht und selbst nach dem ersten Coronafall in diesem Lager nicht viel mehr unternimmt, als es unter Quarantäne zu stellen.

Moria ist auch ein Symbol für das, was heute oft unter Sicherheit verstanden wird: Die Sicherheit der einen auf Kosten der Sicherheit der anderen. Statt die Bewohner*innen – oder sollte man sagen Insassen – des Lagers in Sicherheit zu bringen, sperrt man sie noch mehr ein, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Moria ist auch Symbol für die Schande, die uns alle trifft. Es ist tatsächlich emotional kaum auszuhalten, sich vor Augen zu führen, dass diese 13.000 Bewohner*innen eben auch 13.000 individuelle Menschenleben darstellen. Leben(sjahre) voller Begehren nach einer menschlichen Zukunft, voller Hoffnung, Solidarität und Lebensmut und mindestens so viel Enttäuschung, Verzweiflung und Wut. Unzählige ganz persönliche Geschichten. Gelebtes Leben mit allem, was dazugehört.

Wenn wir ehrlich sind, halten wir es nicht aus, weil wir ganz genau wissen, dass es nicht nur die Schande des deutschen Innenministers ist, der aus politischem Kalkül Moria als Faustpfand für seine Politik der Abschreckung braucht. Nicht nur die Schande derer, die in ihren unterschiedlichen politischen Ämtern ihre Möglichkeiten nicht genutzt haben, diesem Schrecken ein Ende zu setzen. Dies auch und sicherlich zuerst!

Aber damit kommen wir anderen, die keine unmittelbare politische Verantwortung tragen, nicht raus. Müssen wir uns nicht auch fragen, wie es passieren konnte, dass wir uns nach der ersten Empörung und ersten Protesten an die Bilder aus Moria gewöhnt haben, so wie wir uns an das Sterben im Mittelmeer und vieles andere mehr „gewöhnt“ haben? Wir beklagen vielleicht immer mal wieder, wie wir doch abgestumpft sind. Oder geben zu bedenken, dass wir uns auch nicht immer nur mit all dem Negativen beschäftigen können. Das mag schon sein. Es kann nicht jede*r mal eben die Welt retten. Aber müssten wir uns gar nicht danach fragen, ob wir die Katastrophe hätten verhindern können, sondern, ob wir unsere Möglichkeiten genutzt haben, die wir hatten?

Viele bewundern die Menschen, die sich weltweit immer wieder gegen Unmenschlichkeit zur Wehr setzen. Die nicht nach einer Kundgebung wieder nach Hause gehen, um in den Nachrichten zu schauen, ob die Kundgebung auch übertragen wird. Menschen, die immer wieder kommen und auch bleiben, bis sie nicht mehr zu übersehen sind. Menschen, die dabei ganz andere Risiken in Kauf nehmen und Repression und Gegengewalt aushalten (müssen). Was hält uns davon ab, einen Schritt weiter zu gehen? Dran zu bleiben? Jeder* an ihrem*seinem Ort mit den jeweiligen Möglichkeiten? Müssten wir uns nicht mit diesen Fragen beschäftigen, wenn wir noch an sowas wie Solidarität, an Menschlichkeit, an Nächstenliebe, an Respekt glauben und uns den Menschenrechten noch in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen?

Ich spreche hier bewusst von „wir“, auch wenn dieses Wir zigfach gebrochen ist. Denn bei allen Brüchen und Widersprüchen steht Moria als Symbol für das Europa, in dem wir leben. Nur weil andere noch privilegierter sind, heißt das nicht, dass uns die Menschenwürde „der Anderen“ gleichgültig sein kann. Was die jeweils eigenen Handlungsmöglichkeiten sind, hängt selbstverständlich von den Möglichkeiten in der jeweiligen gesellschaftlichen Position ab. Und diese sind sehr unterschiedlich, je nachdem, welche Lasten mensch zu stemmen hat. Und da macht es sehr wohl einen Unterschied, ob dies eigene Kämpfe gegen Ausgrenzung und Entwürdigung sind – kollektive und/oder persönliche-, oder ob beispielsweise nahe Menschen zu pflegen sind, junge, alte oder kranke, oder ob es darum geht, belastet und ausgefüllt zu sein von den vielen Hobbys, die zu pflegen sind, von Anschaffungen, die abzuzahlen sind, von Körper- und Erfolgsidealen, denen wir nacheifern.

Diese Fragen müssen sich die nicht stellen, die sich klar entschieden haben, dass ihnen das private Glück, der eigene Wohlstand, das persönliche Vorankommen (oder das der eigenen Kinder) wichtiger ist als die Würde der anderen. Das kann man dann je nach ideologischer Prägung zynisch, neoliberal, nationalistisch, rassistisch oder einfach nur ehrlich nennen.

Sie gilt auch anders für all die Aktivist*innen, die an dieser Stelle sagen können, „ja, ich habe versucht, was ich konnte – es hat nicht gereicht, weil wir zu wenige waren“. Ebenso all denen, die tagtäglich oft unsichtbare Unterstützungsarbeit für Geflüchtete leisten. Und auch für die vielen, die sich der Unmenschlichkeit immer wieder aussetzen, mit-leiden, sich ohnmächtig und sprachlos fühlen, keine Idee haben, was noch getan werden könnte und an auch ihrer Untätigkeit leiden.

Und noch ein anderer Gedanke: Würden wir der Frage auf den Grund gehen wollen, wie es möglich ist, dass wir uns immer wieder an die Entrechtung „der Anderen“ gewöhnen, dass wir uns immer wieder in unserem Alltag einrichten und unsere persönlichen Probleme für wesentlicher halten, dann müssten wir auch nochmal in ganz anderer Weise über Rassismus sprechen.

Rassismus als die Struktur, in der die Welt seit Jahrhunderten organisiert, welche Regionen der Welt sich – wie Eduardo Galeano pointiert formuliert hat – aufs Gewinnen und welche sich aufs Verlieren spezialisiert haben. Rassismus als die Form, wie in Migrationsgesellschaften diese Spezialisierung fortgesetzt wird. Rassismus als die Form, die uns dann doch immer wieder glauben machen kann, dass es schon irgendwie in Ordnung ist, dass wir – je nach Position mehr oder weniger – auf der Seite der Gewinner stehen. Rassismus als die Form, in der es naheliegend ist, sich in den bestehenden Verhältnissen einzurichten und – insbesondere in der neoliberalen Variante – das Verlieren als persönliches bzw. kollektives Versagen zu sehen.

Auch wenn es zum jetzigen Zeitpunkt noch keine gesicherten Kenntnisse zur Brandursache gibt. Allein weil es vorstellbar ist, dass Geflüchtete selbst den Brand gelegt haben, ist Moria nicht zuletzt auch ein Symbol für den verzweifelten Widerstand gegen dieses rassistische System. Für den hoffnungslosen Ausbruch, der aber eben trotzdem ein Ausbruch bleibt. Vielleicht wäre dann der Satz „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ noch nie so treffend gewesen. Doch das verzweifelte Handeln derer, die keine anderen Möglichkeiten mehr sehen, sollte nicht von denen kritisiert werden, die die Verantwortung für die Verhältnisse tragen, und auch nicht von denen, die zu wenig getan haben, diese zu verändern, obwohl sie Möglichkeiten dazu gehabt hätten.

Weitere Links

Keine griechische Tragödie

Es geht um mehr als Mitleid und Empörung: Moria ist ein politisch organisiertes Menschenrechtsverbrechen.

https://www.medico.de/blog/keine-griechische-tragoedie-17878/

Moria brennt!

Demoaufruf von Seebrücke vom 9.10.2020

https://seebruecke.org/news/moria-brennt/

Fire destroys much of Moria Camp, „following four years“ european tolerance of fatal risks to migrants

Statement vom Legal Centre Lesvos

http://legalcentrelesvos.org/2020/09/09/fire-destroys-much-of-moria-camp-following-four-years-european-tolerance-of-fatal-risks-to-migrants/

„Problembewältigung Moria – Zeugenschaft und Verantwortung im Kontext von Grenzsicherung“

Eine Veranstaltung der Uni Wuppertal mit Astrid Messerschmidt vom Dezember 2019

https://www.erziehungswissenschaft.uni-wuppertal.de/fileadmin/erziehungswissenschaft/Bericht_04.12.19_Problembew%C3%A4ltigung_Moria_18.03.2020.pdf