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6. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleg_innen,

am 30. April haben wir im Stuttgarter Rathaus zusammen mit LAKA und einer ganzen Reihe weiterer Veranstalter das Hearing „NSU als Zäsur – Strategien gegen institutionellen Rassismus“ veranstaltet. Es war – so unsere Erfahrung, aber auch die Rückmeldung vieler Beteiligter und Besucher_innen – eine besondere Veranstaltung.

Die Bedeutung der Veranstaltung wurde schon in der Vorbereitung sichtbar. Das Thema institutioneller Rassismus ist ein heißes Eisen und mögliche Geldgeber und Kooperationspartner wollen sich daran – insbesondere in Kombination mit dem Bezug auf das Feld der Polizeiarbeit und damit zum Innenministerium – nicht die Finger verbrennen. So war es schon auch ein politischer Erfolg, dass an diesem repräsentativen Platz das Thema aus vielfältigen Perspektiven besprochen werden konnte.

Besonders war aber auch die Zusammenstellung der Redner_innen. Es waren Stimmen von Menschen, die für Gruppen sprechen, oder als Anwältin, Wissenschaftler oder Politiker Gruppen vertreten, die von Rassismus betroffen sind. Die anwesenden Vertreter des Innenministeriums haben lange zugehört und hatten auch nicht das letzte Wort. Und wenn sie am Ende öffentlich zum Ausdruck brachten, dass für sie ein neuer und wichtiger Gedanke war, dass die Opfer von Rassismus selbst definieren, ob es Rassismus war, dass Rassismus also an der Wirkung und nicht an der Absicht gemessen wird, war dies auch nicht selbstverständlich.

Besonders war auch die Herausforderung, ein Thema, das – die im NSU-Prozess beteiligte Anwältin Seday Basay hat das eindrücklich deutlich gemacht – so dramatische Folgen für die Beteiligten Opfer und ihre Familien hatte, in einer auch entdramatisierenden Sprechweise zu verhandeln. Eben aus dem Wissen, dass politische Veränderungen nur möglich werden, wenn das Thema überhaupt als Thema besprechbar wird.

Besonders beeindruckt hat viele dabei Chester Morrison, unser Gast aus England, der beim Hearing, wie schon am Vorabend bei einem Vortrag der Tübinger Regionalgruppe am Institut für Erziehungswissenschaft, mit einem ruhigen, fast gelassen wirkenden Selbstverständnis die Dinge beim Namen genannt hat, wie es in der bundesdeutschen Diskussion kaum möglich scheint. Er war es auch, der in seinem Schlusswort den Vertretern der Landesregierung entgegnete, dass als Antwort auf institutionellen Rassismus, so die englische Erfahrung, keine kleinen Schritte vorwärtsbringen, sondern es eine politische Gesamtstrategie brauche.

Vielleicht wird in folgender von Chester Morrison berichteten verbindlichen Empfehlung der MacPherson-Kommission der Unterschied in der Sichtweise auf das Thema am deutlichsten: In England müssen Schulen seither jeden rassistischen Vorfall an eine übergeordnete Behörde melden. Zwei Dinge machen den Unterschied sichtbar. Erstens: ob es ein rassistischer Vorfall war, entscheidet die betroffene Person, nicht die Schule. Zweitens: Hat am Ende eines Jahres eine Schule keinen Vorfall berichtet, wird sie zur Best-Practise-Schule ernannt und von einer Kommission besucht, die versucht herauszukriegen, wie dies möglich war. Keine Schule will unter diesen Vorzeichen Best-Practise-Schule werden. Das heißt: In der englischen Diskussion scheint der Rassismus als institutionelle Normalität angenommen zu werden. Und dies führt dann eben auch zu anderen Strategien: In der deutschen Diskussion wird hingegen sehr großer Wert darauf gelegt, dass Polizei, Schule, Verwaltung im Prinzip nichts mit Rassismus zu tun haben, es allenfalls einzelne Fälle gibt oder Fallen, in die Mitarbeiter_innen aufgrund von individuellen Vorurteilen reintappen. Entsprechend sind dann in der Regel ein paar Fortbildungen das Programm, mit dem institutioneller Rassismus „bekämpft“ werden soll.

Siehe dazu auch den Kommentar von Claus Melter in diesem Newsletter und den Artikel der Stuttgarter Zeitung[1].

Wie geht es nun weiter? Wir arbeiten zum einen an einer Dokumentation und überlegen mit den Kooperationspartnern, wie die von LAKA im Hearing angekündigte Initiative eines Runden Tisches „Institutioneller Rassismus“ umgesetzt werden kann – dann nicht nur beschränkt auf Polizei und Sicherheitsapparat, sondern erweitert auf Schulen, Medien und andere Einrichtungen. Aber auch dies werden heiße Eisen und dicke Bretter sein.

Ansonsten möchten wir Sie wie immer mit diesem Newsletter auf anstehende Veranstaltungen sowie neue Materialien aufmerksam machen und dabei auch besonders auf die, an denen Netzwerkmitglieder direkt beteiligt sind. Konkret die Tagungen in Karlsruhe und Esslingen, sowie die Bücher von Dileta Sequiera und Albert Scherr, die Arbeitshilfe von Andreas Foitzik und Axel Pohls Rezension des Trainingshandbuches „Woher komme ich?“, an dem  eine ganze Reihe Netzwerkmitglieder beteiligt sind.

Schließen möchten wir mit einer aktuellen Empfehlung zum Referendum in Griechenland. Unser Freund und Kollege Athanasios Marvakis hat ein lesenswertes Interview gegeben[2]: Die Menschen beginnen jetzt, ihren Zorn zu bündeln! Möge es so sein.

Euch und ihnen alle einen angenehmen Sommer

Andreas Foitzik und Sabine Pester

6. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Juli/August 2015:

PDF-Datei (775,4 kB)

[1] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.veranstaltung-im-stuttgarter-rathaus-bohrende-fragen-nach-rassismus-in-der-polizei.d29b49ee-c10b-4803-af25-adc6c1957e6b.html
[2] http://www.hintergrund.de/201507033598/politik/politik-eu/qdie-menschen-beginnen-jetzt-ihren-zorn-zu-buendelnq.html