Gilda Sahebi hat vor wenigen Tagen die medialen und politischen Debatten vor und nach den Wahlen gut auf den Punkt gebracht[1]. Seit vielen Jahrzenten hat sich in Deutschland eine „Meistererzählung“ etabliert, die „Ausländer“ für alle strukturellen Probleme macht. Egal ob Kriminalität, sexualisierte Gewalt, Wohnraummangel, Antisemitismus, fehlende Kitaplätze oder Bildungsnotstand, die reflexartige Schuldzuschreibung führe dazu, dass die zwei Antworten nur „Begrenzung und Ausweisung“ sein können.
Diese Erzählung ist so tief verankert, dass sie von Politiker*innen und Journalist*innen aller politischer Couleur bedient und damit wiederholt und noch weiter hoffähig gemacht wird. „Wie ein Teppich legt sich das Meisternarrativ auf all diese gesellschaftlichen und strukturellen Probleme. Ressourcen, politische und mediale, werden dafür aufgewendet, sich mit den Problemen des Meisternarrativs zu beschäftigen“. Die Folge: „Jene Probleme, die eigentlich gelöst werden müssten, bleiben ungelöst“.
Das im wahrsten Sinne Verrückte daran ist, dass am Ende keine Rolle spielt, ob die, die sie verbreiten, selbst an diese „Meistererzählung“ glauben oder nicht. Es scheint ihnen bei Strafe des Untergangs bei den nächsten Wahlen gar nichts anderes übrig zu bleiben. Noch verrückter ist, dass Politiker*innen, die diese Meistererzählung als letzten Ausweg gegen den Rechtsruck sehen, damit das zweite Narrativ der Rechten verstärken, dass die Politik ja nur viel verspreche, aber gar nichts bewege. Oder glaubt irgendwer, dass ein paar Lager im globalen Süden oder ein paar Dutzend mehr Abschiebungen die Probleme hierzulande lösen werden?
Folgen wir diesem Gedanken, ist das Ergebnis der Wahl auch ein Ausdruck der Schwäche zivilgesellschaftlicher Kräfte und speziell der antirassistischen Bewegungen über die letzten Jahrzehnte. Und dabei geht es nicht nur darum, dass diese rassistische Denkfigur zu einer Politik führt, die ja dann tatsächlich verantwortlich ist, dass Menschen in unserer Gesellschaft unter unwürdigen Bedingungen leben und arbeiten und die Militarisierung an den Außengrenzen Europas immer mehr Tode fordert. Sie führt eben auch dazu, dass für komplexe gesellschaftliche Fragen keine differenzierten und langfristig angelegten Antworten mehr gefunden bzw. öffentlich debattiert werden können.
Der durch die Wahlen wieder sichtbar gewordene Rechtsruck in Deutschland, Europa und vielen Teilen der Welt wäre vor diesem Hintergrund ein Schwerpunkt in diesem Newsletter wert gewesen. Auch das Schwerpunktthemen der letzten Newsletter, der Krieg in Israel/Palästina und die weitgehenden Sprach- und Hilflosigkeiten im politischen wie pädagogischen Umgang damit hätte eine weitere Aufmerksamkeit verdient.
Es fehlten uns aktuell schlicht die Ressourcen.
Wir hoffen, dass ihr trotzdem durch die Beiträge dieses Newsletters in Eurer Arbeit unterstützt und angeregt werdet.
Liebe Grüße
das Redaktionsteam
[1] https://taz.de/Gilda-Sahebi/!a55413/
Download 44. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Juli 2024:
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Das Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen.
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