Liebe Newsletter-Leser_innen,
Als ich vor mehreren Wochen über das Gelände der documenta 15 ging, war ich fasziniert von dem vielschichtigen Ausdruck von kollektiven Stimmen aus dem globalen Süden. Einige der Kollektive saßen um große Tische im Hinterhof der Ausstellungshallen. Es war sichtbar und spürbar, wie hier eine ganz andere Art, Kunst zu machen, plötzlich mitten in einer der wichtigsten Kunstausstellungen Europas ihren Platz fand. Ich verstehe wenig von Kunst, was ich aber verstand, dass hier ein kultureller Ausdruck sichtbar wurde, der lange aus einer europäischen Perspektive unsichtbar war. Eine spezielle Form der „cancel culture“.
Wenige Tage zuvor war ein Bild abgehängt worden, das mit einer eindeutig antisemitischen Bildsprache mitten am zentralen Platz der documenta stand. Es hätte da nicht stehen dürfen, und es ist richtig, darauf zu reagieren. Und es braucht eine Aufarbeitung, wie es dazu kommen konnte, dass dieses Bild gezeigt wurde. Dabei geht es nicht nur um die nun zu recht kritisierten antisemitischen Inhalte, sondern auch um eine rassistische Bildsprache, die in der Diskussion nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Aber die Diskussion darüber war nicht der Anfang einer Debatte, bei der die Beteiligten voneinander lernen hätten können, sondern es wurde von vielen der große Gegensatz aufgemacht, der seit einigen Jahren in sich wiederholenden Zyklen Stimmen der Antisemitismuskritik und der postkolonialen Kritik in einen unüberwindbaren Gegensatz stellen.
Und so hatte ich beim Gang durch die Documentahallen in dieser allgemeinen Verwirrung auch eine Traurigkeit, was nun wieder alles unsichtbar wurde, was gelohnt hätte, unbefangener wirken zu können. Es hätte gefallen können oder nicht. Verstanden werden oder nicht. Vor allem hätte es dann wirklich kritisierbar sein können.
Das Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik steht für mich vor allem für den Versuch, das binäre Denken zu überwinden. Die Idee zu überwinden, dass die Welt einfach zu erklären sei. Dass es eindeutige Standpunkte gäbe. Wir haben das gemeinsame Anliegen, Rassismus und Antisemitismus zu kritisieren, tun dies aber aus einer je unterschiedlichen Involviertheit heraus. Wir sind – auch dies wieder in sehr unterschiedlicher Weise nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems. Und wir versuchen immer mehr zu lernen, Widersprüche auszuhalten und selbst zum Thema zu machen.
Das Anliegen dieses Newsletters ist es, auch in dieser Debatte einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass ein Sprechen wieder möglich wird. Dass eine Kritik wieder möglich wird. Dafür haben wir von zwei Kolleginnen, Astrid Messerschmidt und Isabelle Ihring zwei kurze Gastkommentare bekommen. Und wir haben einige Texte zusammengestellt, von denen wir hoffen, dass sie diesem Zwecke dienen. Aber auch diese Auswahl wird Kritik hervorrufen, wir würden uns freuen, wenn es eine Kritik ist, die zum gegenseitigen Verstehen beiträgt.
Andreas Foitzik
Download 36. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Juli/August/September 2022:
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