„Ist die Ausgrenzung von Ungeimpften nicht auch Diskriminierung?“ Diese Frage wird uns gerade immer wieder gestellt. Von Schulsozialarbeiter_innen, von Personalrät_innen, von Kolleg_innen, allesamt der Coronaleugnung völlig unverdächtig. „Wird hier nicht, so definiert ihr doch Diskriminierung, eine Gruppe zu einer Gruppe gemacht, mit negativen Bildern belegt und systematisch benachteiligt?“.
Aus einer juristischen Perspektive ist die Antwort relativ einfach. Zum einen schützt der Diskriminierungsschutz des AGG nur die dort definierten Gruppen. Eine Ungleichbehandlung ist demnach eine Diskriminierung, wenn sie auf Zuschreibungen oder Zugehörigkeiten beruht, die Bestandteil gesellschaftlich relevanter Ungleichheitsstrukturen sind, die systematisch zu Benachteiligung führen, zentrale Persönlichkeitsmerkmale betreffen und auch von den Personen nur schwer oder gar nicht veränderbar sind. Auch erlaubt das AGG Ungleichbehandlung selbst dieser Gruppen, wenn es einen rechtfertigenden Sachgrund gibt. Angesichts der eminenten Bedrohung durch die Pandemie sollten wir uns einig sein, dass hier Ungleichbehandlungen gerecht fertig sind, um andere vulnerablen Gruppen zu schützen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes kommt in ihrer aktuellen Expertise (in diesem Newsletter) dann auch zu dem Ergebnis, dass nur bei bestimmten Gruppen Ungleichbehandlung von Ungeimpften als Diskriminierung zu werten wäre.
Aber können wir uns hier aus einer diskriminierungskritischen Perspektive auf eine rein juristische Betrachtung zurückziehen und dann schweigen? Müssten wir nicht trotzdem intervenieren, wenn in Unternehmen, Geimpfte und Ungeimpfte durch verschiedene Eingänge eingelassen werden? Wenn infizierte ungeimpfte Bekannte, sich nicht mehr den Notarzt rufen trauen, weil sie sich den Schuldzuschreibungen nicht aussetzen wollen? Wenn durch Teams, Schulklassen, Kollegien immer mehr Risse gehen, in denen Kommunikation kaum mehr möglich ist?
Wissen wir nicht um die „Gefahren einer einzigen Geschichte“ (Chimamanda Ngozi Adichie)? Wissen wir nicht darum, wie gewaltvoll es sein kann, wenn Gruppen zu Gruppen gemacht werden, wenn darin Menschen reduziert werden auf einen Aspekt dessen, was sie ausmacht, wenn dann je individuelle Beweggründe keine Rolle mehr spielen, weil das Bild schon die Antwort liefert auf Fragen, die dann gar nicht mehr gestellt werden müssen? Wissen wir nicht, dass das Leben nicht binär ist. Dass solch grobe Einteilungen in die einen, die ein Teil der Lösung, und die anderen, die das Problem sind, nicht nur falsch, sondern gefährlich sind?
Ja, es ist kaum auszuhalten, dass in den Intensivstationen die Kolleg_innen weit über die Belastungsgrenze hinaus überfordert sind und es womöglich bald zu Triage-Situationen kommt. Dass viele Menschen einfach nur Angst haben vor einer Wiederholung des letzten Winters mit langer Einsamkeit, viel zu engen Lebensverhältnissen, kaum mehr bewältigbaren familiären Situationen und vieles mehr. Und ja, wir brauchen eine höhere Impfquote.
Aber würden wir die nicht viel eher erreichen, wenn wir gemeinsam und über die Grenzen von Geimpften und Ungeimpften hinweg an einer solidarischen Idee eines verantwortlichen Umgangs mit der Pandemie arbeiten. Wenn wir als gemeinsames Ziel definieren, vulnerable Gruppen zu schützen. Wenn wir anerkennen, dass es individuelle Gründe gibt, die wir nicht im Einzelnen verstehen müssen, um sie anerkennen zu können. Wenn wir dann unsere Umgebung nicht mehr in Geimpfte und Ungeimpfte trennen, sondern in die, die verantwortlich verhalten und die, die dies nicht tun. Impfen ist eine Möglichkeit, vermutlich die einfachste und wirksamste. Aber Geimpfte, die sich sicher fühlen und keine weitere Rücksicht nehmen, sind womöglich die größere Gefahr als Ungeimpfte, die sich und andere anderweitig schützen. Auf einer Basis gegenseitiger Anerkennung von Ängsten und Bedenken ließe sich dann auch wieder anders streiten, ohne die Sorge haben zu müssen, dass alleine eine Nachfrage angesichts des gewaltvollen gesellschaftlichen Sprechens über das Thema die Kommunikation und Beziehung gefährdet. Dies führt zu dem Schweigen in einer Situation, in der wir angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen wie individuellen Zerbrechlichkeit (siehe den Gastkommentar von María do Mar Castro Varela in diesem Newsletter) miteinander gegenseitig liebevoll und zugewandt umgehen sollten.
Vielleicht ist dies keine Antwort auf große gesellschaftliche Fragen. Aber wir könnten an den Orten, an denen wir zusammenkommen, in Teams, Kollegien, Vereinen, Gruppen beginnen, einen anderen, einen solidarischen Umgang miteinander wiederzugewinnen. Vielleicht würde dies auch ermöglichen, dass wir wieder mehr in der Lage wären, die Menschen empathisch wahrzunehmen, die in ganz anders existentiell bedrohlichen Situationen sind.
Anne Jung weist in ihrem Gastkommentar auf die Menschen im globalen Süden hin, denen der Zugang zu einer Gesundheitsversorgung und aktuell konkret zu einer Impfung aus Profitinteressen der reichen Länder vorenthalten werden. Die von ihr beschriebene Aktion „Impfsoli“ könnte eine Antwort sein, mit positiver Energie für den globalen Zugang zum Impfen zu werben, dabei auch in dieser Gesellschaft fürs Impfen zu werben, statt mit einer negativen, toxischen Energie sich an „Ungeimpften“ abzuarbeiten.
Mit diesem Newsletter wollen wir in einem zweiten Themenschwerpunkt noch die Situation an den Außengrenzen in den Blick nehmen, die angesichts der Pandemiesituation schnell wieder aus den Schlagzeilen und unserem Bewusstsein gerät.
In einem dritten Schwerpunkt haben wir ein paar Quellen zusammengestellt, die den Koalitionsvertrag unter rassismuskritisch relevanten Perspektiven beleuchten. Auch wenn hier bei migrationsbezogenen Fragen, kaum essentielle Verbesserungen zu erwarten sind, gibt es doch positive Signale für Verbesserungen im Bereich Diskriminierungsschutz.
Wir bedanken uns an dieser Stelle bei den bei Anne Jung und María do Mar Castro Varela für ihre Kommentare und wünschen euch allen, dass ihr wohlbehalten und gut durch diesen Winter kommt.
Bleibt solidarisch und passt aufeinander auf.
Andreas Foitzik und Sabine Pester
Download 34. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Dezember 2021:
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