Liebe Kolleg*innen und Freund*innen,
nach dem Tod von George Floyd durch Polizeigewalt in den USA scheint es wieder ein Zeitfenster zu geben, in dem es möglich ist, über Rassismus zu sprechen. Wie im Februar nach dem Morden in Hanau, wie nach besonders tödlichen Eskalationen im europäischen Grenzregime, wie kurz auch nach den Corona-Fällen in den deutschen Fleischfabriken. Die Reihe solcher Zeitfenster könnte man über Jahre und Jahrzehnte zurückgehen. Nie wurden sie gewährt, immer wurden sie erkämpft, wie jetzt gerade von der beeindruckenden Schwarzen Bewegung in den USA, hier in Deutschland und weltweit.
Doch diese hohe mediale Aufmerksamkeit ist auch immer wieder schnell vorüber. Wie bitter war es für die Angehörigen der Toten von Hanau, wie schnell „Corona“ das öffentliche Bewusstsein über diese Tragödie, die gerade eben mitten unter uns geschehen ist, wie abgeschalten hat. Wie bitter für die in Griechenland gestrandeten Geflüchteten, wie schnell ihr Schicksal wieder in der medialen Versenkung verschwunden ist. Wie bitter, dass es mitten in der Hochphase der Empörung über Polizeigewalt in den USA möglich ist, dass das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz, das eine längst überfällige minimale Kontrolle der Polizei durch unabhängige Stellen vorsieht, einem heftigen politischen Gegenwind ausgesetzt ist, dem wir wenig entgegenzusetzen haben.
Unsere Schwäche ist es noch, dass es uns zu wenig gelingt, im Sprechen über Rassismus die Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir brauchen eine Erzählung, in der das Schicksal der prekär beschäftigten osteuropäischen Beschäftigen in der Fleischindustrie, rechtsextreme Gewalt, das europäische Grenzregime, struktureller Machtmissbrauch durch die Polizei, die selbstverständliche Verlagerung der Care-Arbeit auf migrantische Arbeitskräfte oder die Nichtanerkennung der kolonialen Verbrechen in Namibia und anderswo verschiedene Kapitel der gleichen Geschichte sind.
„Die Würde des Spargels ist unantastbar“. Dieses Graffiti auf einem Tübinger Jugendzentrum könnte ein Kapitel dieser Erzählung sein. Damit die „systemrelevante“ Spargelernte nicht ausfällt, können in Zeiten, in denen das Asylrecht für Geflüchtete aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt ist, tausende Saisonarbeitende nach Deutschland einreisen. Die in dieser Zeit üblichen Hygienemaßnahmen spielen kaum eine Rolle, die Risiken der Beschäftigten durch vollbesetzte Flugzeuge und viel zu eng belegte Unterkünfte werden in Kauf genommen. Vor Ort werden die Saisonarbeiter*innen dann eben aufgrund dieser Lebens- und Arbeitsbedingungen als Risiko für die Bevölkerung wahrgenommen und erleben Ausgrenzung und Isolation. Auch wenn dies im Konkreten sicherlich noch einmal differenzierter zu betrachten ist und es sicher auch andere, positivere, Beispiele gibt: in der Gesamtwahrnehmung ist diese Episode eine koloniale Figur in Reinform. Was sagt es über eine Gesellschaft, dass die Würde von unzähligen Menschen mit Füßen getreten werden kann, ohne dass dies skandalisiert wird? Diese ausbleibende Skandalisierung ist der eigentliche Beleg für die Normalität des Rassismus, die sich auch mit dieser Episode in das Bewusstsein der stillen Beobachter*innen einschreibt.
Mit dem Schwerpunktthema Anti-Schwarzer Rassismus wollen wir mit diesem Newsletter die Kämpfe der Schwarzen Bewegung gegen rassistische Polizeigewalt würdigen und unterstützen. Besonders freuen wir uns über den Gastkommentar von Saraya Gomis von EOTO e.V. Aber wie immer wollen wir auch all die anderen Baustellen einer rassismuskritischen Migrationspädagogik nicht aus dem Blick verlieren und ein klein wenig dazu beitragen, sie auch in Verbindung zu bringen.
Mit besten Grüßen
Andreas Foitzik und Sabine Pester
Download 28. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Juni 2020:
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