„Migration ist die Mutter aller Gesellschaften!“ … das war die Antwort von 30.000 Menschen bei der vermutlich größten explizit antirassistischen Demonstration „We´ll come united“ am vergangenen Samstag in Hamburg. Neben Migrationsforschungsnetzwerk kritnet stehen vor allem Geflüchtete selbst hinter der Organisation dieser Demonstration. Das war eine wichtige Antwort auf den in unserem letzten Newsletter an dieser Stelle beschriebenen Umschwung der öffentlichen Meinung zu Flucht und Migration. Die Medienberichte über den angeblichen gewaltsame Aufstand der Geflüchteten in Ellwangen, den angeblichen BAMF-Skandal, die unsägliche Özil-Affäre hatten – so unsere These – eine Stimmung herbeigeschrieben, die Seehofer mit dem Satz „Die Migration ist die Mutter aller Probleme“ als eine offen rassistische und rechtspopulistische Position zuspitzen konnte. Wenn er von Problemen spricht, meint er nicht reale Probleme wie soziale Ausgrenzung, Armut oder eine Produktionsweise, die Mensch und Umwelt auspresst. Wenn er von Problemen spricht, geht es um Ängste und Verunsicherungen, die genau durch solch zugespitzte vereinfachende Positionen erst geschaffen werden.
Thomas Gebauer beschreibt diesen Zusammenhang in seinem Essay „Mit Sicherheit in den Abgrund: Die Instrumentalisierung der wachsenden Verunsicherung“ (Rundbrief 3/18 von medico international):
„Kaum eine Frage bewegt heute die Öffentlichkeit mehr als die Frage der Sicherheit. Schon jetzt sind die Folgen unübersehbar: Plätze, Straßen, ja ganze Städte überwacht von Video-Kameras, private Sicherheitsdienste im Nahverkehr, Betonklotze vor Fußgängerzonen, die erkennungsdienstliche Behandlung beim Grenzübertritt, automatische Gesichtserkennung auf Bahnhöfen, die Massenausspähung durch Geheimdienste, die längst in jedem Menschen ein potentielles Sicherheitsrisiko sehen. (…) Es stimmt: Die Welt ist zu einem höchst unsicheren Ort geworden. Dabei ist es gerade die Engführung aller Probleme auf die Frage der Sicherheit, die verhindert, dass die Ursachen der Verunsicherung von Menschen angegangen werden können: der beängstigende Klimawandel, der auch hierzulande nicht mehr zu leugnen ist; die rasant voranschreitende Digitalisierung der Lebenswelten, die den Menschen kaum noch nutzt, sie aber zunehmend nutzlos macht; der Sozialabbau, der zu immer offensichtlicher werdenden gesellschaftlichen das ständige Evozieren von Bedrohungsgefühlen in Medien und Politik, das verunsichert.
Und aus Ängsten lasst sich auch gut Kapital schlagen. Ängste beflügeln nicht nur die Geschäfte der heute mit zweistelligen Zuwachsraten boomenden Sicherheitsindustrie, sondern nutzen auch im Kampf um Wählerstimmen. Wer Bedrohungsszenarien auszumalen weiß und sich darin als zupackender Retter zu inszenieren versteht, punktet bei denen, die Unsicherheit empfinden. Und Sündenböcke, die für alle Probleme der Welt verantwortlich sein sollen, sind schnell präsentiert: die Fremden, die Flüchtlinge, die Obdachlosen und Sozialhilfeempfänger. (…) Für das so entstehende Ressentiment bleibt es unerheblich, dass Länder wie Deutschland auf Zuwanderung angewiesen sind und mit Blick auf die öffentlichen Haushalte nicht die wirtschaftlich Schwachen, sondern die Besserverdienenden das Problem sind: auf jeden Euro Sozialmissbrauch kommen 1.400 Euro an Steuerhinterziehung. Die Verrohung der Sitten, die Aufkündigung des Respekts gegenüber den Anderen, die Gewöhnung daran, dass die Würde der Menschen offenbar doch angetastet werden kann – all das sichert nicht das friedliche Zusammenleben von Menschen, sondern nur das bestehende Unrecht. (…)
Übrig bleibt jener archaische Kampf aller gegen alle, in dem schon immer nur die Stärkeren gewinnen konnten. Und so wirken die Mauern, die nach außen gezogen werden, auch nach innen. Sie sind es, die die Panik aufkommen lassen. Die vermeintliche Sicherheit führt geradewegs in den Abgrund. Der Traum absoluter Sicherheit, so der in Südafrika lebende Philosoph Achille Mbembe, meint nicht nur Überwachung, sondern auch Säuberung. (…) Die „Heimat“, die uns der herrschende Sicherheitsdiskurs verspricht, ist ein wenig anheimelnder Ort. Es ist ein Ort, an dem die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit verloren gegangen ist. Es war der Philosoph Jürgen Habermas, der kürzlich einen prononcierten Einspruch gegen den Weg in den Abgrund formuliert hat. Anlässlich der Verleihung des deutsch-französischen Medienpreises Anfang Juli 2018 in Paris geißelte er nicht eine fehlende Sicherheitsarchitektur, sondern die dramatisch zunehmende soziale Ungleichheit. Dass Europa heute bedroht sei, liege vor allem daran, dass die politische Linke und in erster Linie die sozialdemokratischen Parteien Europas ihre Wahler „normativ unterfordern“. Wer Mehrheiten gewinnen wolle, müsse seine Ideen auch um den Preis der Polarisierung verteidigen. Andernfalls drohe den Ländern Europas ein Rückfall in die „vergiftete Mentalität ihrer Zeit als Kolonialmächte““.
Die Gefahr geht nicht von Migration aus, sondern von denen, die Migration verantwortlich machen für globale Zustände, die nicht von ihr verursacht werden, sondern sie im Gegenteil erst hervorbringen.
„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. So könnte man hoffen. Es gibt noch – das zeigen auch Umfragen – einen relevanten Teil der Gesellschaft, der für ein offenes Europa steht. Wir haben das auch gemerkt, als Aktivist*innen vom Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik und von adis e.V. mit einer vergleichsweise bescheidenen Aktion versucht haben, den Tübinger Stadtlauf orange zu machen. Orange der Farbe der Seenotrettung, die Farbe der Initiative Seebrücke. Es war erstaunlich, wieviel Leute spontan bereit waren, sich für Seebrücke ein orangenes Band anzuheften. Solch Aktionen sind eine auf eine Art hilflose, eher symbolische Gegenwehr. Angesichts der Tatsache, dass die zivilen Seenotrettung immer noch festgesetzt und kriminalisiert wird, während im Mittelmeer trotz sinkender Zahlen prozentual immer mehr Geflüchtete bei der Überfahrt sterben.
Die Antwort auf den Unsicherheitsdiskurs darf sich nicht auf Symbolik beschränken. Pädagogik und Sozialen Arbeit hat zwei Aufgaben, die sie nie trennen darf. Sie muss Menschen Unterstützung anbieten, wo sie reale Unsicherheiten erleben. Das gilt zuerst für die, Menschen, die von Rassismus, Klassismus, Heteronormativität und Sexismus betroffen sind. Menschen, deren selbstverständliche Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft täglich in Frage gestellt wird. Sie brauchen Räume der Anerkennung. Räume des Empowerments.
Aber Pädagogik, Soziale Arbeit und auch politische Bildung müssen gleichzeitig den Ängsten und ausgrenzenden Positionen (nicht den Menschen) entgegentreten, die Ursachen mit Folgen verwechseln. Menschenrechte sind unteilbar und müssen unteilbar bleiben. Es ist unsere Aufgabe dies jeden Tag zu verteidigen.
Und es wird wichtig sein, diese Position auch auf der Straße zu zeigen. Zwei Möglichkeiten gibt es am Samstag 13.10.: eine landesweite Kundgebung in Karlsruhe und die bundesweite Kundgebung „Unteilbar“ in Berlin (beide siehe Aufruf in diesem Newsletter).
In diesem Newsletter haben wir weitere Möglichkeiten zusammengestellt, Position zu beziehen und die eigene fachliche Position zu reflektieren. In diesem Sinne allen einen schönen und nicht zu gemütlichen Herbst
Andreas Foitzik und Sabine Pester
Download 21. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Oktober 2018:
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