Newsletter 20

20. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“

Dieser 20. Newsletter erscheint in „verstörenden Zeiten“[1]. Während die Welt gebannt die Rettung einer thailändischen Fußballjugendmannschaft aus einer Höhle verfolgt, werden im Mittelmeer Seenotrettungsboote in Häfen festgesetzt und die Retter angeklagt. Schiffe mit mehreren Hundert geretteter Geflüchteter fahren tagelang umher, bis sie einen Hafen finden, der die Menschen aufnimmt. Während die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge drastisch fällt, steigt die Rate derer, die die Flucht mit ihrem Leben bezahlen. Im ersten Halbjahr 2017 war es ein Toter auf 38 Menschen, die in Europa ankamen, im Juni 2018 einer auf sieben (taz vom 9.7.2018).

Noch vor drei Jahren begrüßten viele die „Geretteten“ und öffneten ihre Türen. Heute müssen sich die, die immer noch in bewundernswerter Ausdauer Unterstützungsarbeit leisten, schon fast dafür rechtfertigen.

Nach der Schiffskatastrophe von Lampedusa im Juni 2016 war die Empörung groß. Es gab Kundgebungen, Aufrufe, Veranstaltungen. Das verstörende ist, wie dünn besetzt die Reihen sind, die sich nun den Entwicklungen entgegenstellen – eingeschlossen unser Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik, eingeschlossen unser neuer Verein adis e.V., eingeschlossen der Autor dieser Zeilen.

Die Frankfurt Rundschau schreibt dazu am 19.7. „Das Allensbach-Institut hat festgestellt, dass sich derzeit 47 Prozent der Bevölkerung „große Sorgen“ beim Thema Flüchtlinge machen. Und dass diese Beunruhigung auf die erbitterte Auseinandersetzung in der Regierung zurückgeht. Der Propagandafeldzug von Seehofer, Söder & Co. war demnach brutal erfolgreich – die Stimmung ist gekippt. Durch eine Rhetorik der Angst, durch Wortgefechte voller unwürdiger Begriffe für Menschen in existenzieller Not. Noch im Mai fanden hierzulande nur 26 Prozent die Flüchtlingssituation besorgniserregend, und seitdem hat sich an der faktischen Situation nichts geändert. An der gefühlten um so mehr. Im Dunstkreis dieser propagandistisch erzeugten Bedrohung erklärt das Kabinett die Maghreb-Staaten leichterdings zu sicheren Herkunftsländern.“

Wie konnte das passieren?

Drei Geschichten der letzten Monate zeigen diese Entwicklung wie im Brennglas. Drei Geschichten von Ereignissen, die eigentlich keine wirklich große Nachricht wert sind. Drei Geschichten, die im Zusammenspiel von Politik, Medien und Stammtisch zum Skandal wurden. Drei Geschichten, die aber auch zeigen, wie die, die widersprechen können, selbst die Maßstäbe verloren haben, drei Geschichten, die uns geschwächt haben.

Erstens. Aus Unregelmäßigkeiten in der Bremer BAMF-Behörde wurde der BAMF-Skandal. Eine Behörde hatte großzügiger als andere Geflüchteten Asyl gewährt. Es war die Rede von Korruption und Asyltourismus. All das hat sich nicht bewahrheitet, doch wurde dies kaum mehr wahrgenommen.

Im Jahr 2017 gab es 32.486 Bescheide des BAMF, die von den Verwaltungsgerichten im Sinne der Schutzsuchenden korrigiert werden mussten. Das sind rund 40 Prozent. Tendenz steigend: 2016 waren es knapp 30 Prozent, 2015 13 Prozent (siehe migazin-Artikel in diesem Newsletter. Um es noch einmal deutlich zu sagen 40 % der Asyl-Entscheide des BAMF werden von deutschen Gerichten als unrechtmäßig kassiert. Maximilian Pichl kommentiert im migazin: „Man stelle sich nur vor, deutsche Baubehörden würden in einem vergleichbaren Maßstab wie am Fließband Fehlentscheidungen produzieren. Der Aufschrei unter den schwäbischen Häuslebauern und den großen Immobilienkonzernen wäre immens.“

Die Leiterin der Bremer Behörde musste gehen. Der Skandal war, dass aus humanitären Gründen Gesetze und Verordnungen großzügig ausgelegt werden. Müssten nicht eigentlich alle BAMF-Behördenleitungen geschasst werden, die es nicht schaffen, dass unter ihrer Verantwortung – sagen wir – mindestens 90 % Entscheide getroffen werden, die vor Gericht bestand haben? Soweit hat sich der Maßstab, was Recht und was Unrecht ist, schon verschoben. Unterstützer*innen die Geflüchteten helfen, gegen diese Fehlentscheide der Behörde zu ihrem Recht zu kommen, können dann als „Antiabschiebemafia“ beschimpft werden.

Zweitens. Am 3. Mai haben sich in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Ellwangen einige Geflüchtete der als unrechtmäßig empfundenen Abschiebung eines Freundes in den Weg gestellt. Man könnte diese Geschichte erzählen als Geschichte von Menschen, die nicht viel und doch alles zu verlieren haben. Von Menschen, die so viele Mut hatten, ein kleines Zeichen des Widerstands zu setzen. Man könnte sie als Geschichte erzählen, die in einer unzähligen Reihe von Geschichten über mutige Menschen steht, die sich mit Formen des zivilen Ungehorsam dem als Unrecht empfundenen Handeln der Staatsgewalt entgegengestellt haben. Wo wären wir ohne sie?

Die Geschichte wurde aber anders erzählt. Aus dem – nach allem was wir heute wissen – weitgehend friedlichen Hinstehen wurde ein gewaltsamer Aufstand, aus dem Wahrnehmen von Bürgerrechten ein Missbrauch von Gastrecht, aus einer fast alltäglichen polizeilichen Situation eine Gefahr für den Rechtsstaat. Auch hier: nur wenige Journalist*innen haben sich die Mühe gemacht, zu recherchieren. Als dann die Rechercheergebnisse berichtet wurden, hat schon niemand mehr hingehört. Politiker*innen bis hin zu den Grünen haben sich überboten in der Empörung über die verzweifelt-mutige Tat der Geflüchteten. So werden Maßstäbe verschoben und von uns war wieder wenig zu hören.

Drittens: Die dritte Geschichte hat nicht unmittelbar mit dem Thema Flucht und Asyl zu tun, verhandelt aber doch auch Fragen der Zugehörigkeit und zeigt ebenso, wie sich hier Maßstäbe verschoben haben. Mehrfach schon hatte Mesut Özil dem türkischen Präsidenten Erdoğan ein Trikot geschenkt, ohne dass es eine große Aufregung gegeben hat. In den letzten Jahren hatte gerade der Fußball dazu beigetragen, dass die Frage der Mehrfachzugehörigkeit von ihrem nationalistischen Ballast etwas befreit wurde. So durfte Lukas Podolski 2006 nach seinem Tor gegen seine polnische Mannschaft auf den Jubel verzichten und danach zu seiner Familie in den polnischen Fanblock gehen. Anders im Sommer 2018. Dass es dabei nicht um die Person und die Politik Erdoğans ging, zeigte sich daran, welch Prominenz sich ohne großen Aufschrei mit Putin zeigen konnte. Wie schnell der in Deutschland geborene Özil wieder zum „Ausländer“ werden konnte, zeigt, wie gerade muslimischen Menschen nicht zugestanden wird mehr-heimisch zu sein. Wie prekär ihre Zugehörigkeit immer noch ist.

 

Wir veröffentlichen in diesem Newsletter verschiedene Aufrufe und Stellungnahmen, die sich gegen diese Entwicklungen stellen. Die 16.000 Menschen, die – wie wir – den von kritnet initiierten Aufruf „Solidarität statt Heimat“, unterzeichnet haben, zeigen, dass es noch den Wunsch nach Protest gibt. Aber die Menschenrechtsorganisation medico international, die den Aufruf mitverantwortet hat, weist zurecht darauf hin (siehe unten), dass nun alle die, die unterzeichnet haben, damit auch arbeiten müssen. Es gab verschiedene Kundgebungen, aber müsste nicht viel mehr passieren?

Reicht eine doch eher plakative Argumentation, die zunächst das Bedürfnis ausdrückt, dem Stimmungswechsel ein lautes „Nein“ entgegenzusetzen? Hilft die zurecht polarisierende Sprache der Aufrufe, am nächsten Tag im der Teamsitzung, im Kollegium, im Freundeskreis, in der Familie sprachfähig zu werden? Welche Geschichten können wir erzählen?

Chimanada Adichie hat in ihrer großen Rede „The Danger of a Single Story“ darauf hingewiesen, wie wirkungs- und machtvoll es sein kann, wenn es gelingt, die Geschichte über eine Gruppe mit „zweitens“ zu beginnen und dies zu der einzigen Geschichte über diese Gruppe zu machen. Mit „zweitens“ zu beginnen bedeutet, das „Erstens“, also die Hintergründe und Vorgeschichten wegzulassen und auszusparen. Die Gewinner der Geschichte argumentieren hier gerne, dass diese alten Geschichten nicht mehr geändert werden könnten und man jetzt nach Lösungen suchen müsse.

Wie notwendig wäre es und wie gleichzeitig hilflos wirkt es, dann darauf zu bestehen, die ganze Geschichte zu erzählen und auf historische Zusammenhänge und wirtschaftliche Machtverhältnisse hinzuweisen. Die Realpolitik verlangt nach Lösungen und diffamiert das Beharren auf die historische Verantwortung als Moralismus und den Verweis auf die Unteilbarkeit von Menschenrechten als „Menschenrechtsfundamentalismus“ (Boris Palmer).

Was bedeutet der Stimmungsumschwung für die Soziale Arbeit? Müsste eine soziale Arbeit, die sich als Menschenrechtsprofession versteht, hier nicht ganz vorne stehen in der Verteidigung der Interessen ihrer Adressat*innen? Müsste sie nicht Räume öffnen, in denen diese sich auch das „Erstens“ wieder aneignen können?

Unser Netzwerk hat sich aus einer solchen fachlichen Argumentation heraus 2012 gegen die Abschiebung von Roma in den Kosovo und 2014 gegen den im Rahmen des NSU-Skandals sichtbar gewordenen institutionellen Rassismus gestellt. Dabei ging es immer um mehr als einen plakativen Protest. Es ging um eine Selbstverpflichtung, in der eigenen Arbeit nach Wegen zu suchen, sich dem verstörenden Wiederaufleben des Rassismus entgegen zu stellen. Verstörend bleibt, wie ruhig es zurzeit ist.

Wie immer hoffen wir, Ihnen auch mit diesem 20. Newsletter Anregungen und Unterstützung für Ihre Arbeit zu geben und verbleiben mit den besten Wünschen für die Sommerwochen …

Andreas Foitzik und Sabine Pester

 

PS:

Das Editorial dieses Newsletters war bereits geschrieben, als Mesut Özil seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft verkündet und dies auch mit den rassistischen Reaktionen von DFB, Medien und Sponsoren begründet hat, die er nach seinem Treffen mit Erdoğan erlebt hat. Nun mag man sich wünschen, dass er sich ähnlich klar zu den der rassistischen Politik gegenüber Minderheiten von Erdoğan in der Türkei äußert. Auch kann es einen gruseln, wenn Erdoğan – erwartbar – versucht, diese Geschichte für sich zu nutzen.

Wenn man dabei aber stehen bleibt, ist man dem oben angedeuteten fundamentalen Zugehörigkeitsdiskurs schon auf dem Leim gegangen. Was am Fall Özil diskutiert wird, ist ja nicht die Frage, ob man einen „türkischen Fußballer“ kritisieren darf, wenn er eine politisch äußerst zweifelhafte Position vertritt. Es geht um die Frage, ob man die Zugehörigkeit eines deutschen Fußballers mit türkischer Familiengeschichte zur deutschen Fußballnationalmannschaft in Frage stellen kann, wenn er eine politisch falsche Position vertritt (als wenn die Geschichte des DFB – von der FIFA ganz zu schweigen – nicht voll wäre von politisch zweifelhaften Gestalten und der Aufwertung  von antidemokratischen Regimen).

Nun mag man die Idee, dass in der globalisierten Welt Nationalmannschaften eine solche Bedeutung bekommen, ohnehin anachronistisch finden. Aber was hier am Beispiel der Nationalmannschaft verhandelt wird, ist immer auch ein Verhandeln der prinzipiellen Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft.

Und dann ist die Causa Özil eine grundsätzliche Frage, für die die Pädagogik und die Jugendsozialarbeit sehr konkrete Antworten finden müssen. Dann reicht es nicht, über Erdoğan zu reden. Es braucht offene und nicht belehrende Gesprächsräume für die Erfahrung von ambivalenten und prekären Zugehörigkeiten.

Sicherlich gibt es auch innerhalb der „türkischen“ Kids ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Ereignisse, so wie es unterschiedliche Bezüge von unterschiedlichen Gruppen gibt zur Politik Ankaras.

Es geht auch nicht darum, dass die Soziale Arbeit sich nicht auch kritisch zu Erdoğan positionieren kann, ja vielleicht muss. Aber die Frage, die zuvor geklärt sein muss: Ob es gefällt oder nicht, muss diese Gesellschaft aushalten, dass die Bürger*innen-Rechte nicht an politischen Meinungen oder Positionen hängen. Die Kids haben ein sehr gutes Gefühl, dass hier mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Mit diesem Gefühl darf die Pädagogik sie nicht alleine lassen.

[1] Siehe den gleichnamigen Kommentar von Paul Mecheril, auf den wir in diesen Newsletter verweisen.

Download 20. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“:

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