Noch vor Luther sei Kolumbus gewesen und schon damals „begannen unsere guten Beziehungen zu Amerika“. Dieser Satz von Angela Merkel vor 70.000 Zuhörer*innen beim Evangelischen Kirchentag in Berlin im Gespräch mit dem ersten schwarzen Präsidenten der USA, Barack Obama ist zwar an Zynismus kaum zu überbieten, hat aber kaum zu wahrnehmbaren Protest geführt. Er bagatellisiert die brutale Unterwerfung und Massakrierung so, als würde man die Pogrome im Mittelalter als Beginn „unserer“ guten Beziehungen zur jüdischen Bevölkerung in Westeuropa erklären.
Gerade, dass diese Bagatellisierung der Realität des Kolonialismus möglich ist, ohne dass es in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird oder gar eine nennenswerte Empörung hervorruft, sagt viel über den Zustand der Welt und speziell der Republik, in der wir leben.
Denn nur mit dieser Negierung dieses Teils der Geschichte Westeuropas und auch Deutschlands ist es möglich, trotz des Wissens um die unvorstellbaren Leiden der Geflüchteten auf dem Weg aus dem Elend, trotz der unzähligen Toden im Mittelmeer, trotz der Berichte über massenhafte Vergewaltigungen in den von europäischen Gelder finanzierten Camps in Libyen, ist es erklärbar, dass es eine allgemeine Erleichterung gibt, dass die Flüchtlingszahlen zurückgehen und die sogenannte Grenze der Belastbarkeit nicht überschritten wird. Liegt es auch daran, dass es kaum Proteste gibt, wenn nun die so wichtige Arbeit der Seenotrettungs-NGOs auf dem Mittelmeer kriminalisiert wird?
Um nicht missverstanden zu werden. Wir, die dies kritisieren, sind keine besseren Menschen. Ist unsere Empörung nach den Toden des Schiffsunglücks vor Lampedusa, damals veröffentlicht in diesem Newsletter nicht auch einer Routine im Lesen der Zeitungsnachrichten gewichen?
Was macht das Wissen über sklavenartige Arbeitsbedingungen in den Plantagen Südspaniens, in denen auch unser Obst und Gemüse angebaut wird, mit uns? Wie tief hat sich die in Merkels Aussage zu Tage getretene Gewöhnung an die weltweite Ungleichheit in uns eingegraben?
Bei der Podiumsdiskussion der Reutlinger Kandidat*innen für die Bundestagswahl zum Thema Flucht waren sich alle einig, dass die Hauptaufgabe sei, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Die westlichen Länder müssten aber gar nicht mehr geben, um die Fluchtursachen wirklich zu bekämpfen, sie müssten nur weniger rauben. Aber da wären wir wieder bei Herrn Kolumbus ….
In der gleichen Diskussion konnte der CDU-Abgeordnete unwidersprochen sagen, dass er sehr froh sei, dass es heute keine Empörung mehr hervorrufe, wenn gefordert wird, dass man den Flüchtlingen unsere Werte beibringen müsse.
Und in der Jugendsozialarbeit? Da erreichen uns zunehmend Anfragen, dass rassistische Äußerungen gegenüber Klient*innen zunehmen, mediale Diskurse insbesondere zum Thema Islam kritiklos übernommen werden, und abgrenzende Haltungen auch noch offensiv gerechtfertigt werden. Noch alarmierender: Kolleg*innen geben offen in der Runde zu oder verbalisieren so, als wäre es „normal“, dass sie gegenüber Klient*innen verbal und körperlich ausfällig werden. Andere leiden selbst unter dem Qualitätsverlust in der eigenen Arbeit, die „so einfach nicht mehr zu leisten ist“.
Auf der anderen Seite gibt es auch immer mehr Kolleg*innen, die sich gegen Frustration und Zynismus für Reflexion und Professionalisierung einsetzen. Diese Kolleg*innen wollen wir mit unserer Arbeit und auch mit diesem Newsletter in ihrer Arbeit unterstützen.
Aber reicht das gegen die Gewöhnung an postkoloniale Realitäten? Wir fordern mit kritnet: „Brechen wir das Schweigen! Solidarität mit Geflüchteten und Retter_innen“. Es darf keine Kooperation der EU mit libyschen Einheiten geben und keine Rückschiebungen nach Libyen. Die NGOs dürfen nicht bei ihren Rettungsaktionen behindert werden. Wer den Schleppern das Handwerk legen will, muss sichere und legale Überfahrten nach Europa ermöglichen.
Den Aufruf und andere wichtige Initiativen, Veranstaltungen und Materialien finden Sie in diesem Newsletter.
Mit den besten Grüßen
Andreas Foitzik
Download 17. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – September 2017:
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