Nach Bekanntwerden der Abstimmungsergebnisse der hier lebenden Stimmberechtigten zur Verfassungsänderung in der Türkei waren die Reaktionen von vielen Seiten reflexhaft:
Es wurde die Abschaffung des Doppelpasses gefordert. Der Bundesinnenminister hat versucht, die Debatte zur „deutschen Leitkultur“ wiederzubeleben. Forderungen werden laut, die Beziehungen zur Türkei auf den Prüfstand zu stellen.
In schnellen Schuldzuweisungen wurden die in Deutschland lebenden Türken, die mit JA gestimmt haben, vorwiegend als eine homogene Gruppe beschrieben und pauschal kritisiert. Erklärungen für das Abstimmungsverhalten wurden fast nur innerhalb dieser konstruierten „Gruppe“ gesucht.
Der Schritt hin zu antimuslimischen Haltungen ist dann klein. Die Argumente sind bekannt: der Islam würde nicht zu Europa und zu Deutschland gehören und sei mit »westlichen Werten« nicht vereinbar.
Die Verantwortung der deutschen Gesellschaft wurde in dieser Debatte wenig thematisiert.
Die Erfahrungen von Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierungen, die Migrant_innen seit Generationen in Deutschland machen, werden erneut nicht differenziert betrachtet. Die unreflektierte Unterscheidung in „WIR“ und „die Anderen“ führt zwangsläufig zur Frage nach Zugehörigkeiten.
Dabei wird vergessen, dass Menschen viele verschiedene Zugehörigkeiten haben.
Möglichkeit, aktiv an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen mitwirken zu können, ist für Zugehörigkeit zentral.
Eine Gesellschaft muss die Bedürfnisse ihrer Mitglieder ernst nehmen, ihnen Räume der Mitsprache eröffnen und sie darin unterstützen, ihre Interessen in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse einzubringen. In der Verweigerung der Gesellschaft, diese Räume für alle Gruppen zu schaffen, besteht ihr Versagen.
Aus der Mitte-Studie 2016 der FES geht hervor, dass sich Rassismus in hohem Maße auf den Islam verschiebt. Das hat zur Folge, dass Islamfeindlichkeit für viele Muslime in Deutschland noch mehr zu einer täglichen Erfahrung wird. Dazu gehören sowohl subtile alltägliche Diskriminierungserfahrungen als auch Ausgrenzung durch strukturellen Rassismus. Vorenthaltene Zugehörigkeitserfahrungen erschweren eine Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft. Die Gesellschaft muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es einen Zusammenhang gibt, zwischen alltäglichen Ausgrenzungserfahrungen und der Hinwendung zu Angeboten der Zugehörigkeit, die nicht in Frage gestellt werden.
Die Mehrheitsgesellschaft ist nicht bereit, Erfahrungen von Ausgrenzung, Rassismus und Diskriminierung anzuerkennen. Stereotype und Vorurteile werden verfestigt anstatt sie zwingend zu hinterfragen. Eine grundlegende und generelle Hinterfragung von Stereotypen ist eine Voraussetzung, um eigene gesellschaftliche Positionen zu reflektieren. Nur so können Räume für Mitsprache und der Selbstermächtigung entstehen.
Eine wichtige Aufgabe wäre die Stärkung der Präventionsarbeit. Dort können eben die Räume entstehen, in denen Erfahrungen von Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung thematisiert werden können. Die Schaffung dieser Räume ist sowohl eine pädagogische als auch eine gesellschaftliche Herausforderung.
In der Expertise „Pädagogischer Umgang mit Antimuslimischem Rassismus – Ein Beitrag zur Prävention der Radikalisierung von Jugendlichen“, an der das Netzwerk beteiligt war, sind wir ausführlicher dieser Frage nachgegangen, Download unter: www.ufuq.de/pdf/Antirassismus_160916.pdf.
Besonders hinweisen wollen wir Sie noch auf das Interview „Das Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg – Zwischen Reflexion und Intervention“ in dem Band „Rassismuskritik“ zu 25 Jahre IDA e.V. (M. Detzner u.a., siehe PDF), das wir in diesem Newsletter dokumentieren.
Wir hoffen, Sie mit der Zusammenstellung von Materialien und Terminen in diesem Newsletter Ihnen in der Arbeit unterstützen zu können.
In diesem Sinne mit den besten Wünschen
Sabine Pester
Download 16. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – Mai 2017:
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