Um sich in den letzten Wochen mit den Themen Gleichheit und Gerechtigkeit, Umgang mit Heterogenität und Normalisierungsdiskursen zu beschäftigen, musste man nur die Debatten im Sportteil der Tageszeitung verfolgen.
Im Rahmen der olympischen Spiele wurde wieder beklagt, dass das weltweite Doping einen fairen Sport verhindere und die „sauberen“ Sportler*innen ihrer Chancen „beraube“. (In welchen Ländern die Dopingsünder*innen zu vermuten sind, muss gar nicht mehr dazu gesagt werden.)
Nach der 800-Meter Goldmedaille der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya wurde ebenfalls wieder über Wettbewerbsverzerrung diskutiert. Semenya hatte sich schon in den vergangenen Jahren entwürdigende öffentliche Diskussionen über ihre angebliche Intersexualität, einen angeordneten Geschlechtstest, sowie einer androgensenkenden Behandlung unterziehen müssen, um an Wettkämpfen unter Frauen teilnehmen zu können. In Rio durfte sie starten, nachdem diese Regelung wieder gekippt worden war. Eine wirkliche Anerkennung für ihren Sieg bleibt ihr trotzdem vorenthalten.
Der deutsche beinamputierte Weitspringer Markus Rehm durfte – weil seine Prothese ihm angeblich bevorteilt – nicht bei den „richtigen“ Spielen, sondern „nur“ bei den Paralympics starten darf. Diese werden zwar inzwischen von IOC und den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht mehr nur als lästige Pflicht behandelt, sondern werden als Sportevent immer bedeutsamer, die öffentliche Wahrnehmung (… wir nehmen uns da gar nicht aus …) bleibt ihnen trotzdem verwehrt, nicht zuletzt weil aufgrund der verschiedenen „Schadensklassen“, mit denen versucht wird, eine Vergleichbarkeit der Ausgangsvoraussetzungen herzustellen und somit sowas wie einen fairen Wettkampf zu ermöglichen, alles doch recht Unübersichtlich scheint. Da schauen „wir“ dann doch lieber das „Original“ und nehmen im Kauf, dass das IOC, eine durch und durch korrupte Männerclique, aus dem „Fest der Menschen der Welt“ längst einen durchkommerzialisierten Megaevent gemacht hat, in denen Sportler*innen, ob sie wollen oder nicht, vermarktet und verkauft werden.
Das Spannende an all diesen Debatten über einen fairen Wettbewerb, für den alle die ausgeschlossen werden müssen, die aufgrund chemischer und technischer Hilfsmittel oder körpereigener „Normabweichungen“ einen Vorteil haben, ist die Frage, über was alles nicht gesprochen wird. It´s Capitalism, stupid. Wie fair ist ein Wettbewerb, in dem Sportler*innen gegeneinander antreten, von denen die einen bereits als Kinder von hochqualifizierten Trainer*innen mit allen möglichen technischen Hilfsmitteln gefördert werden, die freigestellt sind für Training, deren Eltern sie täglich mit dem Auto ins 100 km entfernt liegende Leistungszentrum fahren, während die anderen auf Sandplätzen, unter schwierigen klimatischen Bedingungen, auf eigene Faust und oft mit dem Druck, nebenher für den Lebensunterhalt jobben zu müssen, sich auf den Wettkampf vorbereiten? Haben am Ende die Debatten um Doping, Testosteronwerte und Prothesen genau die Funktion eben nicht über die Ungleichheit der sozialen Schicht oder gar die ungleichen Möglichkeiten der Länder im globalen Wirtschaftssystem zu sprechen?
Würde die Illusion der Vorstellung, dass Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung hergestellt werden kann, nicht wie eine Seifenblase zerplatzen? Mithin die Illusion, dass es in der postkolonialen Welt so etwas wie einen fairen Handel geben kann? Mithin die Illusion, dass unser Bildungssystem nur annähernd den Anspruch von Chancengerechtigkeit einlöst. Die Illusion, dass Inklusion von Kindern mit Handicap in einem auf Selektion ausgerichteten Schulsystem möglich ist, ohne dass nicht wieder nur viele ausgeschlossen bleiben, weil sie nicht die Unterstützung der Familie haben oder weil sie eben so „anders“ sind, dass sie weder im Unterricht „integrierbar“ sind, noch später auf dem Arbeitsmarkt verwertbar… Oder als ein konkretes Beispiel die Illusion, dass es gerecht ist, dass die im Deutschaufsatz geprüfte Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, bei Erst- und Zweitsprachler*innen nach dem gleichen Maßstab bewertet wird?
Es gibt Hochschulen, die Bildungsausländer*innen mehr Zeit für die schriftliche Prüfung zugestehen, um Gerechtigkeit herzustellen und aushalten, sich damit den Vorwurf auszusetzen, dass diese Regelung ebenso keine Gerechtigkeit herstellt, weil die konkreten sprachlichen Voraussetzungen (Lese- Rechtschreibschwäche, Dialekt, Aufwachsen in einer bildungsaffinen Familie etc.) differenzierter sind, als dass man ihnen durch die Aufteilung sie in zwei Gruppen „gerecht“ werden könnte. Wie wäre es, wenn Schulen verpflichtet würden, zumindest einmal im Jahr allen Schüler*innen die Möglichkeit zu bieten, einen Aufsatz in der Sprache ihrer Wahl schreiben zu können?
Der Sport erinnert uns daran, wie sich die Vorstellung, was normal ist, und was als Abweichung gedacht wird, als ein mächtiger Diskurs auch in unseren eigenen Vorstellungen niederschlägt und welche Anstrengung es bedarf, sich ihm immer wieder zu entziehen.
Wir haben uns als Netzwerk mit dem Video „Unterstützungsarbeit – auf Augenhöhe mit Geflüchteten?!“ (www.rassismuskritik-bw.de/erklaervideo) in die Diskussion über das Ehrenamt eingemischt. Auch hier werden wir mit der Frage der Gerechtigkeit konfrontiert. Haben alle Geflüchteten die gleichen Chancen, über ehrenamtliche Unterstützung ein mehr an Teilhabe erreichen zu können? Welche Voraussetzungen muss ein Geflüchteter mitbringen, um eine*n Unterstützer*in für sich zu gewinnen und bei der „Stange zu halten“? Sind es eher die smarten, am besten englisch sprechenden, gebildeten Geflüchteten, die auch – evtl. auch aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit im Herkunftsland – wissen, was sie den Einheimischen an Freundlichkeit, Dankbarkeit und höflicher Distanz anbieten müssen? Oder die Fordernden, Ansprüchlichen, Aufdringlichen, die ihre Not zeigen, sich aber kaum verständlich machen können? Es ist vielleicht nicht die Aufgabe des Ehrenamts, gerecht zu sein. Es ist aber die Aufgabe der Gesellschaft, Strukturen zu schaffen, in denen die Geflüchteten für ein menschenwürdiges Leben nicht auf diese Hilfe angewiesen sind. Es sei denn, die mit der Sympathieauswahl der Unterstützung einhergehende Bevorteilung bestimmter Gruppen passt genau zu der Selektionsidee von guten (weil auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren) und schlechten (weil das Sozialsystem belastenden) Geflüchteten. It´s Capitalism….
Dies wird eine der Fragen sein, die wir in der Veranstaltung am Montag, 19. September bei der Tübinger Veranstaltung mit Nivedita Prasad (siehe unten) diskutieren werden.
Die DVDs des Videos „Unterstützungsarbeit – auf Augenhöhe mit Geflüchteten?!“ mit Booklettext sind inzwischen eingetroffen und können bei uns umsonst und auch in größerer Menge bestellt werden. info@rassismuskritik-bw.de
Besonders hinweisen möchten wir Sie noch auf den von Studierenden der Hochschule Esslingen initiierten Aufruf Petition „Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten“ (siehe unten und auch unter Sonstiges den Beitrag „Praxisschock im Flüchtlingsheim).
Wir haben wie immer für Sie aktuelle Veranstaltungen und neue Materialien rund um das Thema Rassismus und Migration zusammengestellt.
Wenn Ihnen unser Newsletter hilfreich erscheint, können Sie uns gerne unterstützen. Schicken sie uns Tipps, die in unser Profil passen (newsletter@rassismuskritik-bw.de) und empfehlen Sie uns weiter!
Gerne senden wir Ihnen auch unsere soeben fertiggestellten Flyer zur Verfügung. Bestellungen unter info@rassismuskritik-bw.de.
Mit besten Grüßen
Sabine Pester und Andreas Foitzik
Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württember
12. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ – September 2016:
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